‚Werte‘? – Wertigkeiten!

von Walter Windisch-Laube / 04.05 2021

Im Alsfelder Koalitionsvertrag von CDU und UWA steckt eine Wortfügung, die dringend der Nachfrage bedarf: die Wendung „Anerkennung unserer Werte“ in puncto ‚Integration‘ Fremder. Was für Werte sind das: ‚unsere Werte‘, sofern das Ganze nicht heiße Luft (mit oder ohne Maske) sein oder bleiben soll?

Ein paar Möglichkeiten fallen mir da spontan ein – ‚Werte‘ der westlichen Welt:

  • Wachstumswahn und Konsumreligion
  • Naturzerstörung
  • Wegwerfmentalität und Müllberge
  • Bodenausbeutung
  • Mobilitätsrausch und Urlaubsreisen-Anspruch
  • Auto-Fetischismus
  • Rüstungsproduktion
  • Überlieferungs-(Aber-)Glaube
  • Betriebswirtschaftliches Denken und Markt-Anbetung
  • Profitmaximierung
  • Medien-Hype
  • Privilegien-Pfründe
  • Zivilisationskrankheiten

Ja sicher, es gibt auch noch ein paar andere, wenngleich sie in politischen Entscheidungen und im täglichen Handeln der meisten eine eher untergeordnete Rolle spielen; immer gern genommen: der ‚instrumentelle‘, sprich: für eigene Zwecke instrumentalisierte Gebrauch der Grundrechte, wie auch die von gar zu vielen eher vor sich her getragenen als gelebten ‚christlichen Werte‘…

Zwei weit über unsere Grenzen hinaus bekannt gewordene Alsfelder im 19. Jahrhundert, beide vor über 180 Jahren hier geboren und in der Fremde aus innerer Größe zu Prominenz gewachsen, haben sich nicht an die damals hier geltenden Werte, ‚unsere Werte‘ gehalten – und nicht zuletzt dadurch hochbedeutend wirken können: der Zoologe Wilhelm Kobelt (1840-1916) und der SDAP-Mitgründer Samuel Spier (1836-1903), beide zukunftweisend zum Wohle der breiten Bevölkerung aktiv. Die seinerzeit für unabänderlich gültig erachteten ‚Werte‘, denen sie beide sich widersetzten, waren unter anderem: 

  • Maßlose Ausbeutung der Arbeiterklasse
  • Ärztliche Unterversorgung der Bevölkerungsmehrheit und Zwei-Klassen-Medizin
  • Obrigkeitshörigkeit und
  • Bildungs- und Wohlstandsprivilegien.

Des allen eingedenk wäre es recht hilfreich, wenn die von den Koalitionären gewissermaßen als allgemein und umfassend hier bei uns gültig postulierten ‚Werte‘ namhaft gemacht würden, damit sich Betroffene mit ihnen auseinandersetzen und sie mit ihren eigenen inneren Werten abgleichen können. Zumindest die oben aufgeführten ‚Grundpfeiler‘ unseres Systems sind doch wohl dringend dazu angetan, durch andere Werte konterkariert oder ergänzt zu werden. Damit wäre schon einiges geholfen. 

Gewiss: Wir heute wissen ebenso wenig sicher wie jene Alsfelder damals, ob es viel besser würde, wenn es anders wird, doch wir wissen mit genauso viel Sicherheit wie sie vor eineinhalb Jahrhunderten, dass vieles grundlegend anders werden muss, um besser zu werden[1]Und um aus unserer „selbstverschuldeten Unmündigkeit“[2] herauszukommen, die heute vor allem darin besteht, dass wir uns aus falsch verstandener Freiheits-Sucht zum Spielball von Systemen machen lassen, die wir selbst mit am Laufen halten, auch in ihren für alle Zeit zerstörerischen Dimensionen. Nicht Spielball indessen sollten wir sein, sondern Spielende, Offene, auch in dem Sinne, dass wir uns nicht krampfhaft an ein kulturelles Leitbild (für viele längstens zum Leidbild geworden) klammern, das seine Bewährung vielfach und – im schlechten Sinne – nachhaltig schuldig geblieben ist.  


[1] Nur ganz wenig frei nach Georg Christoph Lichtenberg  (1742-1799). 

[2] So der für das moderne Denken maßgebliche Philosoph Immanuel Kant (1724-1804).